08.10.2012 | 20.000 welthaltige Tage
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20.000 welthaltige Tage
56 Jahre lang führte der Hamburger Jurist Ferdinand Beneke Tagebuch – die Chronik eines Epochenwechsels: Von der Zeit kurz nach der Französischen Revolution bis zur Deutschen des Jahres 1848.
Nach einem editorischen Kraftakt erscheint nun der erste Band.
Von Peter Kapern | 08.10.2012
Es waren nicht die glücklichsten Tage seines Lebens, die Ferdinand Beneke als 20-Jähriger in Minden verbrachte. In Rinteln und Halle hatte er gerade die Juristerei studiert, um dann in der Stadt an der Weser seine Referendarstelle anzutreten – an der Kriegs- und Domänenkammer. Jurist im Verwaltungsapparat des preußischen Königs – in dessen Staatsdienst die Herkunft die Qualifikation ausstach und Mitarbeiter bürgerlicher Abkunft vor den Schreibtischen ihrer adligen Vorgesetzten stramm zu stehen hatten. Das konnte nicht lange gut gehen. Beneke, ein Kind der Aufklärung, schrieb in diesen Tagen des Jahres 1794 sein politisches Glaubensbekenntnis, an dem er Zeit seines Lebens festhalten sollte:
„Freiheit, Gleichheit, Demokratie – das ist mein politisches Ideal. Bürgerliche Ordnung, moralischer Rang, Herrschaft des Gesetzes, Hoheit des Volks. Natürliches Recht der Menschheit muss die Quelle des Gesetzes sein. Und so kann es auch ein Naturrecht für den Staat und den Bürger geben.“
Das politische Bekenntnis eines jungen Mannes, verfasst in einer Zeit des Übergangs. Die Erstürmung der Bastille, die in Benekes Freundeskreis alljährlich gefeiert wird, liegt da schon fünf Jahre zurück, auf dem Schafott in Paris ist mit Ludwig XVI. das Ancien Regime, das Beneke verachtet, enthauptet worden. Das Beben, das dort ausgelöst wurde, lässt Deutschland erzittern. Das Bürgertum entsteht – und formuliert auch hier seinen Anspruch, die Geschicke des Landes zu bestimmen. Das Bürgertum, dessen Personifizierung der Tagebuchautor Ferdinand Beneke ist:
„Repräsentativ ist er bestimmt in seinem ganzen Auftreten, angefangen von seiner Schulbildung über das Studium bis hin zu seinem Beruf ist er wirklich ein, wir benutzen den Begriff nicht gern – ein Bildungsbürger.“
Ariane Smith gehört zum siebenköpfigen Team, das seit elf Jahren daran arbeitet, die Tagebücher des Ferdinand Beneke herauszugeben. Die ersten fünf von insgesamt 20 Bänden erscheinen dieser Tage. Sie erstrecken sich über die Jahre 1792 bis 1801. Die weiteren folgen bis 2016. „Die Geschichte meines Lebens“ – so nennt Ferdinand Beneke seine Aufzeichnungen, die er auf großen Bögen zu Papier bringt und in marmorierten Mappen ablegt. An mehr als 20.000 Tagen notiert Beneke Erlebnisse, Ereignisse, Gedanken. Sein Tagebuch erstreckt sich von der französischen Revolution bis zur Deutschen des Jahres 1848. Ein Textgebirge, das er der Nachwelt hinterlassen hat. Abgefasst mit eiserner Disziplin allabendlich als letzte Tat des Tages, zur letzten Pfeife des Tages, dem „Contemplationspfeifchen“, wie Beneke sagt.
1774 wird Beneke in Bremen als Sohn einer der ersten Kaufmannsfamilien der Hansestadt geboren. Deren Vermögen geht verloren, als Ferdinands Vater sich im Amerikahandel verspekuliert. Ferdinand ist Gymnasiast, als in Versailles die Generalstände zusammentreten, Jurastudent ist er, als in Frankreich die Republik ausgerufen wird. Republik! Kein anderes Wort fesselt ihn zeitlebens so wie dieses. In einer Republik – da will auch er leben.
„Mein Herr …“
… schreibt Beneke in einem Brief vom 15. März 1794,
„… meine Verhältnisse zwingen mich, mein Leben in einem Staat zu fixieren, wo ich nie innerlich glücklich sein kann. Ich bitte Sie, edler Mann, meiner heißen Wünsche Erfüllung zu befördern: Ich möchte gern ein guter Bürger Amerikas werden!“
Adressat dieser Zeilen ist der „Bürger, Präsident des Kongresses von Amerika, George Washington.
Genauso verwirft Beneke alle Überlegungen, sein Glück in der Republik Frankreich zu suchen. So bleiben nur noch wenige Orte, an denen seine Wünsche Realität werden können. 1796 erreicht er einen davon, mit einem frischen Doktortitel im Gepäck, aber arm wie eine Kirchenmaus.
„Republikanischer Boden! Mein Vaterland!“
So jubelt Beneke, als er in Hamburg ankommt, wo er den Rest seines Lebens verbringen wird. Als Anwalt, Richter, Armenpfleger, von Liebeskummer geplagter junger Mann und glücklicher Vater von sechs Kindern. Er steigt in das Großbürgertum der Hansestadt auf, übernimmt phasenweise auch politische Verantwortung, spannt ein riesiges Beziehungsgeflecht über ganz Norddeutschland aus und ist deshalb immer bestens informiert, beständig nah am Puls der Zeit. Herzensgut sei der Beneke, schreibt eine Freundin, aber etwas überspannt. Ein Fingerzeig auf seinen moralischen Rigorismus, seine Pedanterie, die sich zu einer durchaus vorhandenen Selbstverliebtheit gesellt. Der Umgang mit sich selbst habe ihn verwöhnt, rechtfertigt er sich in seinem Tagebuch.
Mehreren Clubs und Gesellschaften der Hansestadt gehörte er an. Da wird gelesen und diskutiert, was über die Ereignisse in Frankreich zu erfahren ist. Mit großer Sympathie verfolgen die Hamburger, wie sich die französischen Bürger erkämpfen, was die in Hamburg längst haben: Politische Macht.
Beneke besucht regelmäßig die Oper, seine große Passion, Mozarts Don Giovanni hört er am liebsten. Als er abends von einem Besuch bei Freunden zurückkehrt, notiert er, der Flügel sei geschlossen und zudem mit Bücherstapeln überladen gewesen. Solche mangelnde Liebe zur Musik registriert er voller Entrüstung, so wie er andere Eigenarten seiner Zeitgenossen mal mit wütendem Zorn, mal mit beißendem Spott, mal mit feiner Ironie kommentiert. Ein pralles Lesevergnügen. Wir verfolgen, wie er den Aufstieg Robespierres und das Blutvergießen der Grande Terreur mit Zustimmung verfolgt, wie er seine Meinung erst deutlich nach der Enthauptung Robespierres revidiert, nun enttäuscht ist über den Tugendprediger mit den blutigen Händen, gleich aber wieder die Hoffnung schöpft, die neue Verfassung werde die französische Revolution schon zur Vollendung bringen.
„Es ist in den Tagebüchern alles enthalten, was ein Bürgerleben dieser Zeit berühren kann.“
Sagt Frank Hatje, der Herausgeber, der Ferdinand Benekes Tagebuch eine „enzyklopädische Welthaltigkeit“ attestiert. Aus Hatjes Feder stammt der großartige Begleitband, der für den Leser die historische Folie aufspannt, vor der Ferdinand Beneke sein Leben erzählt:
„Das fängt an von den großen politischen Ereignissen, die natürlich eine Rolle spielen, wirtschaftliche Vorgänge. Also etwa eine Beschreibung von 1803 einer Straßenszene, der Blick aus dem Fenster auf die Straße, Beschreibung dessen, wie die Leute sich unterhalten, worüber sie sprechen, wie sie gekleidet sind. Wir haben in der Tat das ganze bunte Leben dieser Zeit, wir haben darin eine Zeit die im Umbruch ist, und in dieser Zeit versucht ein Mensch, eben dieser Ferdinand Beneke, Tagebuch schreibend festen Grund zu gewinnen.“
Die Tagebuchform, in der wir das Universum des Ferdinand Beneke erforschen können, bietet einen großen Vorzug. Sein Leben schildert er nicht rückblickend wie in einer Autobiografie. Sein Blick als Diarist ist immer nach vorn gerichtet; seine Gegenwart, die die Tagebücher prägt, ist gesättigt von Möglichkeiten und Varianten, die sich im Laufe der Zeit erledigt haben, heute allenfalls noch Fußnoten der Geschichtsschreibung sind, Beneke und seinen Zeitgenossen aber als erwägenswerte Optionen erschienen, wie etwa die Gründung einer norddeutschen Republik der Vereinigten Hansestädte. So kann man, die Tagebücher lesend, einer vergangenen Welt noch einmal beim Werden zuschauen. Etwa am 4. Mai 1796, als Beneke beiläufig beschreibt, wie er sich mit einem durchreisenden französischen Diplomaten über die Kämpfe in Norditalien unterhält, wo die französischen Truppen auf dem Vormarsch sind. Anlass für eine kleine Notiz:
„Bei Carara General Laharpe, bei Millesimo General Buonaparte.“
Napoleon wird die folgenden Jahrgänge der Bücher prägen. Beneke wird ihn erst feiern als Vollender der Revolution, dann, nach der Kaiserkrönung verteufeln als Verräter der Republik. Aber davon später. Die nächsten Bände erscheinen 2013. Bleibt also Zeit genug, sich mit den grandiosen ersten Jahrgängen der Tagebücher des Ferdinand Beneke zu vergnügen.
Frank Hatje, Ariane Smith u.a. (Hg.): „Ferdinand Beneke. Die Tagebücher I (1792-1801)“
Wallstein Verlag, fünf Bände (Schuber), 2672 Seiten, 98 Euro
ISBN: 978-3-835-30878-7